Heilung in der Schau der Wunden?

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Offensichtlich will Gibson durch das Quantum des Leidens und die Drastik, mit der er die Wunden zeigt, die ihnen in (Teilen) der Schrift zugesprochene erlösende Kraft beglaubigen. Er setzt auf ein Überspringen des „Verismus der Schmerzen“ auf die Zustimmung zu einer Wahrheit, die nur im Glauben angenommen werden kann. "Wegen unserer Sünden wurde er zermalmt. / Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt." (Jes 53,5) Das dem Film als Motto vorangestellte Wort vom leidenden Gottesknecht, das zweifelsohne die neutestamentliche Theologie nachhaltig beeinflusst hat, wird Gibson auch ästhetisch zum Programm.
Er hält deshalb so unerbittlich und "hautnah" auf das Leiden, weil er die Zuschauer förmlich in die Wunden und Schmerzen mit hineinnehmen möchte, bis dahin, dass er den Betrachter wiederholt sogar - christologisch waghalsig - mittels subjektiver Kamera mit der Wahrnehmung Jesu zu assoziieren sucht, um so im Nacherleben der Qualen zumindest anfanghaft auch ihrer "heilenden" Kraft teilhaftig werden zu lassen. Ganz in diesem Sinne meinte Gibson in einem Interview über den aus einer tiefen persönlichen Krise geborenen Impuls zu diesem Projekt: "Ich entdeckte, dass ich die Wunden Christi und seine Leiden betrachten muss, damit die Wunden in meinem Leben heilen" (Der Tagesspiegel, 17.02.2004).

Wegen der erhofften Heilungs- und Glaubens-Wirkungen sind auch die evangelikalen Gruppierungen in den Vereinigten Staaten und andernorts in so breiter Front Gibson beigesprungen. Sie haben in der neuen Passion einen ungleich eindrucksstärkeren Nachfolger für ihren bisherigen "Klassiker" entdeckt: für die unter dem schlichten Titel „Jesus“ verbreitete Bebilderung des Lukasevangeliums, die 1979 unter der Regie von Peter Sykes und John Kirsh im Rahmen des biblizistischen "Genesis-Projekts" entstanden ist und besonders auf Video und DVD eine immense Verbreitung erzielt hat. Bereits diese Produktion wurde stets als "der authentischste Jesusfilm aller Zeiten" beworben - einen Rang, den ihr jetzt Gibson ablaufen will.
Die Zeiten haben sich gewandelt. Setzten Sykes/Kirsh vor dem Hintergrund der nachklingenden Jesus-People-Bewegung auf Rührung und die "Heimeligkeit" klischeehafter Devotionalienbilder, da vertraut Gibson in seiner Fokussierung auf die "Wunde" und getreu seiner Herkunft vom permanent an der Gewaltspirale drehenden Action-Kino auf die Erschütterung und die Wucht so noch nie gesehener Schreckensbilder - jedenfalls sicher noch nie gesehen vom Gros der Menschen, die in Amerika ganze Sondervorstellungen aufkaufen, und auch noch nie von denen, die hierzulande das Gros der Kirchgänger stellen. Ihre Wirkung auf die Psyche und das religiöse Empfinden mag man sich gar nicht ausmalen - geschweige denn die Wirkung auf religiös suchende oder distanzierte Menschen.

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