Fortschreibung von Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano

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Die unmittelbare Vorlage für diese Zuspitzung ist allerdings wieder ein alter Text: die Leidensmystik von Anna Katharina Emmerick (1774-1824), wie sie ihr Clemens Brentano am Krankenlager abgelauscht und später mit einem großen literarischen Eigenanteil und unter breiter Aufnahme älterer geistlicher Literatur in dem Buch "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus", einem Hauptwerk der katholischen Spätromantik, niedergelegt hat (erschienen zuerst in Regensburg-Stadtamhof 1833). Und über dieses Buch vermittelt sich in Gibsons Film eine lange und mit großen Namen (wie Franziskus oder Ignatius) verbundene Tradition der Passions- und Kreuzesfrömmigkeit, die die Wunden Jesu meditiert. Wer mit dieser Tradition noch vertraut oder wenigstens in Fühlung ist, wird vielleicht mit Gibsons Projekt etwas weniger Schwierigkeiten haben.
Während "Das Bittere Leiden" hierzulande kaum mehr gelesen wird, erfreut es sich gerade in evangelikalen Kreisen in den USA einer sehr hohen Bekanntheit und Wertschätzung. So verwundert es auch nicht, dass Mel Gibson, der seit geraumer Zeit einer vorkonziliar orientierten Gruppe katholischer Traditionalisten angehört und diese kräftig finanziell unterstützt, auf Emmerick aufmerksam werden konnte.

In einem Interview mit dem Schriftsteller Patrick Roth anlässlich des Kinostarts von „Signs“ (2002), in dem er die Hauptrolle, einen Priester, spielt, erinnert sich der Regisseur an die Impulse für eine neuerliche Beschäftigung mit dem Glauben: "Es waren ältere Schriften. Ich erinnere mich nicht mehr an die genauen Titel. Eines stammte von einem Deutschen. Aus dem 18. Jahrhundert, glaube ich. Da ging es um diese Frau - eine Nonne, glaube ich -, deren Visionen einem Dichter diktiert wurden. Eine Mystikerin, deren Visionen er beschrieb. Das Buch war ungeheuer reich an Details." (Süddeutsche Zeitung, 12.09.2002) Konkret benannt und als die neben den Evangelien maßgebliche Inspirationsquelle herausgestellt wurde das "Bittere Leiden" dann schon in den frühesten Communiqués über das „Passion“-Projekt. Erstaunlich dann, dass Emmericks Name in den Credits im Abspann fehlt, um so mehr, als der Film tatsächlich außerordentlich viel dem Geist und den "reichen Details" des "Bitteren Leidens" verdankt.

Gibson folgt Brentanos ungemein visueller, ja geradezu "filmischer" Inszenierung der "Gesichte" Emmericks oft bis in die Einzelheiten, angefangen mit der Getsemani-Szene, wenn ein Strahl des Mondlichts wie ein "himmlisches" Spotlight Jesus umfließt, über die Architektur der Paläste des Kaiphas und Pilatus bis hinein in "apokryphe" Konkretionen der Grausamkeiten: etwa, wenn Jesus auf dem Weg zum Hohenpriester über eine Brücke gestürzt wird und kurz vor dem Aufprall hart mit den Ketten, die ihn fesseln, abgefangen wird; oder auch wenn die Geißelung vorgestellt wird als sich in Stufen steigernde, systematisch die gesamte Körperoberfläche zerarbeitende Barbarei. Auch einzelne Einstellungen wie Gibsons Andachtsbilder mit den Marterwerkzeugen haben Vorbilder im "Bitteren Leiden" (und der älteren Leidensmystik).
Vor allem aber sind von diesem Buch etliche der Szenen inspiriert, über deren Herkunft und Bedeutung viele Zuschauer rätseln: beispielsweise dass Claudia, die Frau des Pilatus, der Mutter Jesu und Magdalena am Rande der Geißelung reine Tücher bringt, die diese anschließend benutzen, um die großen Blutlachen in peinlichster Sorgfalt aufzuwischen - vielleicht gedacht als Vorausbild auf die Reinigung des eucharistischen Kelches von den Tropfen des konsekrierten Weines. Wie Gibsons „Passion“ beginnt auch "Das Bittere Leiden" mit einer abermaligen Versuchung Jesu durch den Satan, der ihm die Sündenlast als zu groß, um sie zu tragen, vorstellt. Auch die Ausgestaltung der folgenden Handlung bis zur Anklage vor Pilatus zu einem von brutalen Misshandlungen und Demütigungen Jesu strotzenden "ersten" Kreuzweg schließt dicht an Brentano an. Man kann mit Fug und Recht sagen, Gibsons Arbeit sei auf weite Strecken eher eine Verfilmung von Emmerick/Brentano als der Evangelien.

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