Falsches Pathos der Authentizität
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Wegen der großen Nähe der „Passion Christi“ zum "Bitteren Leiden" sind die Differenzen umso bemerkenswerter. Zwar fließt auch das Buch in manchen Passagen förmlich über von Gewalt, doch wird diese eher im Stil einer Chronik registriert, als dass sie in ihren grausamen Details effekthascherisch ausgemalt würde. Von der letzten Stufe der Geißelung, der schrecklichsten Sequenz des Films, lesen wir im Buch, dass an den Spitzen der Marterwerkzeuge "eiserne Haken hingen" und die Schergen Jesus "damit ganze Stücke Fleisch und Haut von den Rippen rissen." Mit dem Seufzer "O wer kann den elenden greulichen Anblick beschreiben!" blendet Brentano hier sogleich ab, doch Gibsons Kamera hält drauf und schildert diese ultimativen Qualen unter Aufbietung aller maskenbildnerischen Kunst und emotionalisierenden Schnitt-Technik im visuellen und akustischen Detail.
In Sachen Gewalt überbietet aber bereits Brentano die Evangelien um ein Vielfaches. Denn diesen ist jeder Leidensrealismus fremd. Die Extreme des Leidens wie auch der Herrlichkeit (etwa in Verklärung oder Auferstehung) bleiben in ihnen durchwegs große, bestenfalls in ihren groben Koordinaten gespurte Unbestimmtheitsstellen. Als solche lassen sie den Rezipienten erhebliche Freiräume, sie mit den ihnen fasslichen Vorstellungen zu bespielen.
Im Bibelfilm ging es ja oft sehr drastisch zur Sache, war er doch in Zeiten der strengen Zensur ein bevorzugtes Refugium für die vorgeblich durch das "heilige" Sujet gedeckte Zurschaustellung von Sex und Gewalt. Verglichen mit Martin Scorseses gewiss nicht zimperlicher „Die letzte Versuchung Christi“ (1988), der letzten großen historisierenden Inszenierung der Jesusgeschichte, dreht Gibson die Eros-Schraube auf Null zurück, die der Gewalt hingegen auf vollen Anschlag und setzt eine neue Grenzmarke im "Körperkino", einem Kino, das die Zuschauer geradezu leibhaftig packen will.
Während Scorsese aber seinen Film mit einem Insert eröffnet, dass es sich bei ihm um die Verfilmung eines Romans und eben nicht der Evangelien handelt, hat sich Gibson von Anfang an die maximale Authentizität aufs Panier geschrieben und von daher auch die Drastik der Gewaltdarstellung zu rechtfertigen gesucht. Natürlich kann man wie Gibson die Dialoge der Evangelien ins Aramäische und Lateinische (besser wäre Koine-Griechisch gewesen) rückübersetzen. Aber hat man damit mehr in Sachen "Authentizität" gewonnen, als nur ein ungewöhnliches Klangbild?
Und natürlich kann man sich, wie es schon Scorsese tat, in Sachen Ausstattung und Hinrichtungs-"Technik" historisch kundig machen. Aber das Resultat bleibt nichtsdestoweniger inszenierte Geschichte. Das wird dann bedenklich, wenn das Inszeniertsein und damit der subjektive Anteil geleugnet werden, indem Gibson Kritik an ihm regelmäßig mit der Bemerkung abweist, sie treffe ja gar nicht ihn, sondern die Evangelien (deren Verfasser er im Übrigen für Augenzeugen hält). In der behaupteten maximalen Authentizität zeigt sich dabei regelmäßig das immer gleich eklatante Missverhältnis von durchaus respektabler "landeskundlicher" Informiertheit und völliger exegetischer Ignoranz. Allein an diesem fatalen Widerspruch muss Gibsons Film scheitern.