Die Schurken im Hohen Rat
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Sieht man Gibsons „Passion Christi“, könnte man meinen, es habe nie eine wissenschaftliche Exegese gegeben - weder eine historisch-kritische "Rückfrage nach Jesus" noch eine Arbeit unter irgendwelchen anderen methodologischen Vorzeichen. Geradezu voller Stolz wird das Epos im Presseheft als "Evangelienharmonie" präsentiert. Ganz in alter, besser: mittelalterlicher Manier mixt Gibson ungeniert die Überlieferungen, addiert, glättet oder akzentuiert - immer unter dem Vorzeichen der traditionellen Bevorzugung des Johannesevangeliums.
Mit dem vierten Evangelium, dessen Passionshandlung sich wohl auch als die liturgisch vertrauteste und materialreichste empfohlen hat, tritt natürlich zugleich diejenige Fassung der Passion in den Vordergrund, die - wider den historischen Befund - "die Juden" am stärksten mit der Schuld am Tode Jesu behaftet und das Pilatusbild am kräftigsten schönt. Der angeblich auf Authentizität versessene Gibson tut nichts, um hier moderierend einzugreifen, sondern intensiviert diese disproportionale Schuldverteilung noch weiter. Gerade die Zeichnung des Prokurators war noch immer ein Testfall darauf, wie ernst es einer Evangelien-Dramatisierung mit der Historie ist und ob sie der jüdischen Seite einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren lassen will.
Mit der Vorstellung des Pilatus als zwielichtige, lavierende und tendenziell negative Figur waren hier Emmerick/Brentano dem "wirklichen", wegen seiner Rücksichtslosigkeit sogar aus Judäa abberufenen Pilatus um einiges näher als Gibson, der ihn wieder einmal ganz als Opfer jüdischer Erpressung erscheinen lässt. Unter dem Druck der Hohenpriester, die ihn in der Hand haben, muss er trotz aller Rettungsbemühungen, zu denen ihn auch seine bereits christusgläubige Frau Claudia anfeuert, kapitulieren. Konsequenterweise haben bei Gibson die Römer keinerlei Interesse oder gar Anteil an Jesu Gefangennahme.
Sie erfolgt allein auf Betreiben des Hohen Rats unter seinen beiden Vorsitzenden Annas und Kaiphas, die entsprechend der Passionsspieltradition immer in enger Wirkeinheit auftreten. Gibson lässt sie wie die gnadenlosen Despoten eines Schurkenstaats agieren. Mögen die römischen Schergen noch so wüten: die Drahtzieher und "wahren" Verantwortlichen für Jesu Tod sind hier eindeutig die jüdischen Ratsherrn. Die zwei, drei kritischen Einwendungen aus ihren Reihen gegen die Prozessführung, die Gibson zulässt, reichen nicht annähernd hin, um eine Pro-Jesus-Fraktion im Rat zu profilieren.
Berücksichtigt man neben der Diskussionslage innerhalb der christlichen Exegese, die die Mitverantwortung der Jerusalemer Tempelaristokratie am Tod Jesu aus dem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen sucht, auch das allenthalben zu beobachtende Auflodern eines neuen Antisemitismus, kommt man kaum umhin, die Sorgen jüdischer Interessensverbände wie der "Anti-Defamation League" (ADL) oder des "American Jewish Comittee" zu teilen: die Sorge, dass Gibsons Film - so ADL-Präsident Abraham Foxman - geeignet ist, "antisemitische Gefühle zu wecken oder zu bestärken" oder dementsprechend instrumentalisiert zu werden. Das ist natürlich etwas anderes, als Gibson eine bewusste antisemitische Hetzkampagne vorzuwerfen, wogegen er sich häufig meint verteidigen zu müssen, und auch etwas anderes, als ihn wegen der unerträglichen anti-jüdischen Äußerungen und der Holocaust-Leugnung seines Vaters in Sippenhaft zu nehmen. Aber vom Vorwurf eines zumindest "fahrlässigen" Antijudaismus kann man den Sohn kaum entlasten.
Gibson macht es sich viel zu leicht, wenn er sich mit dem Hinweis auf judenkritische Züge in den Evangelien über alle Vorwürfe erhaben fühlt. Denn weder versucht er, die einschlägigen biblischen Traditionen kritisch reflektiert zu bearbeiten, wie es sein Authentizitäts-Pathos eigentlich verlangen würde, seine biblizistische Naivität aber verhindert, noch bringt er gegenläufige Tendenzen in den Evangelien auch nur ansatzhaft zur Geltung.
Noch bedenklicher ist, dass er gerade die Züge der Evangelien, die bei oberflächlicher Lektüre des Antijudaismus verdächtigt werden können, noch durch ein ganzes Bündel von teils subtilen, teils plakativen Verleumdungen der jüdischen Seite ausbaut - Verleumdungen visueller und narrativer Natur, die entweder keinerlei biblischen Haftpunkt haben oder aber vorhandene Motive völlig unproportional verzerren. Das beginnt bereits mit der Physiognomie von Annas und Kaiphas: Hat der eine ein wie von Hass und vom Bösen zerfurchtes Gesicht, so entblößt der andere gleich bei seinen ersten Worten ein auffällig schlechtes Gebiss. Die den Gesichtern eingeschriebene Herzenshärte erhält denn auch genügend Raum, sich kräftig auszuagieren.
Ungerührt haben die Tempelherren (gegen das biblische Zeugnis) lange Zeit der entsetzlichen Geißelung zugesehen und voll des Hasses und Spottes tritt Kaiphas noch an den zur Ungestalt zerschundenen Gekreuzigten heran und verhöhnt ihn. Dass gelegentlich, etwa bei der Geißelung, der Satan in androgyn-weiblicher Gestalt durch die Reihen der Ratsherren wandelt, mag - wie bei Emmerick/Brentano - in heilsgeschichtlicher Perspektive als Entlastung der Juden gedacht sein, erschließt sich aber so nur gläubigen Christen und ändert im Kontext des Films nichts an der denunzierenden Optik. Und wenn sich manche im Hohen Rat angesichts der Begleitwunder beim Tod Jesu - sie dürfen in Gibsons "authentischer" Darstellung natürlich nicht fehlen! - schuldbewusst auf die Brust schlagen und zum Herrn flehen, wird dies zunächst als Bestätigung ihrer großen Blutschuld gesehen werden. Bezeichnenderweise hat Gibson den mit einer unheilvollen Wirkungsgeschichte beladenen "Blutruf" von Mt 27,25 doch nicht wie angekündigt herausgeschnitten, sondern nur nicht untertitelt.
Das Volk in Jerusalem zeichnet Gibson ebenfalls weithin negativ. Es ist keineswegs zuvorderst der Pöbel oder eine mit Geld bestochene Menge (wie im "Bitteren Leiden"), die mit Schmähungen und Handgreiflichkeiten gegen Jesus wütet, sondern ein breiter Querschnitt der Bevölkerung. Die Jünger Jesu bilden darin ebenso wenig eine signifikante Gruppe (es sind immer nur die drei Aufrechten, Maria, Magdalena und Johannes, die den Leidensweg begleiten) wie die möglicherweise aus Enttäuschung oder Verzweiflung von ihm abgefallenen ehemaligen Anhänger. Sichtlich Mitleid haben nur einige Frauen, unter ihnen selbstredend "Veronika", und der recht differenziert angelegte Simon von Cyrene, dessen Mittragen des Kreuzes, ja förmliches Tragen Jesu, zu den eindringlichsten Momenten des Films rechnet.