Es konzentriert sich alles auf den Leidensleib

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Dass das Nachdenken über den Tod Jesu zumindest nicht unter Absehung von seiner gesamten Wirksamkeit in Wort und Tat geschehen kann, mahnt die Theologie seit Jahrzehnten an, soweit sie nicht überhaupt auf Distanz zu dem in den ältesten Schichten der Evangelientradition noch kaum signifikanten Sühnekonzept gegangen ist. Der Stand der theologischen Diskussion ficht Gibson freilich nicht im Geringsten an, er hat ihn sicher nicht auch nur in gröbsten Umrissen zur Kenntnis genommen, obgleich beispielsweise die Katholische Bischofskonferenz in den Vereinigten Staaten schon 1988 in einem wichtigen Papier über "Kriterien zur Beurteilung von Dramatisierungen der Passion" (www.nccbuscc.org) bei einem solchen Unternehmen nachdrücklich die höchste theologische Sorgfalt eingefordert hatte.
Und auch von der Gottesherrschaft, der Mitte von Jesu Verkündigung, spricht sein Menschensohn kein einziges Mal. Sie kommt auch der Sache nach nicht vor, da sämtliche kurzen Rückblenden allein auf das Passionsgeschehen hingeordnet sind - als typologische Vorausbilder (wie die "apokryphe" Szene vom Stürzen des Jesusknaben) oder als theologische Programm-Szenen. Es ist insbesondere die in viele kurze Bilder fragmentierte Erinnerung an die Einsetzungsworte und die Abschiedsreden, die das "reale" Brechen des Leibes Jesu als eine Art mitlaufender Kommentarebene begleiten und den Sinn des Leidens verdeutlichen sollen.
Mit dem Ausfall der Botschaft von der Gottesherrschaft bricht bei Gibson auch die gesellschaftlich-politische Dimension von Jesu Wirken weg und konzentriert sich alles auf den Leidensleib, der all den Schergen geduldig ausgeliefert wird, damit sie an ihm - ohne dass ihnen das selbst bewusst wäre - das für das Sühnegeschehen nötige grausame Handwerk vollziehen. Hier fällt Gibson nicht nur weit hinter Pier Paolo Pasolinis proto-befreiungstheologische Filmbearbeitung „Das Erste Evangelium – Matthäus“ (1964) zurück, mit der er am Ende nur mehr den süditalienischen Drehort Matera gemein hat. Hier war selbst Oberammergau schon um vieles weiter, indem die jüngste Inszenierung durch die Transposition vieler Logien Jesu aus seiner vor-jerusalemer Zeit in die Auseinandersetzungen im Tempel auch das gesellschaftskritische Potenzial seiner Botschaft profilierte und mit Verve den "Rabbi" und "Propheten" Jesus zur Geltung brachte (vgl. HK, Juli 2000, 357ff.).

Mit seiner Blickverengung auf den Schmerzensmann und die finalen Stunden des Leidens schließt Gibsons Film an eine frühere Entwicklungsstufe der Passionsspiele an, ja radikalisiert selbst sie noch dahingehend, dass er unmittelbar mit Jesu Gebetskampf in Getsemani einsetzt und vom üblichen "starken" Auftakt mit Einzug und Tempelaktion nur einige elliptische Rückblenden übrig lässt: karge, subjektive Blicke Jesu über den Kopf, besser: durch die langen Ohren seines Reittiers.
Der Geist von Gibsons Inszenierung ist derselbe wie der des überholungsbedürftigen Passionsspiels auf den Hügeln über Montreal. Nur dass jetzt das Skript, in dem so viel vom Blut die Rede ist, auch so blutig wie möglich inszeniert ist - in einem geradezu "barocken Blutrausch", wie Regiekollege Franco Zeffirelli wohl mit Blick auf die mit so genannten Gräuelszenen gesättigten Märtyrerdramen kritisiert hat. Alter Wein also, aber in den neuen Schläuchen des Gewalt-, Horror- und  Splatter-Kinos (splatter = Blut verspritzen) und "veredelt" durch Applikationen aus dem Fundus der klassischen christlichen Passions-Ikonographie. So werden die letzten Stunden Jesu zu einer einzigen Reise durch die Höllenkreise des Schmerzes, des Blutes und des Drecks - und rot und braun sind denn auch die dominanten Farben. Die kurzen Rückblenden und Seitenblicke, die den Malstrom des Grauens perforieren, lassen weniger durchatmen, als dass sie als kleine „Auszeiten“ die Intensität des Horrors neu befeuern.
Das Kino ist an Grausamkeiten ja fürwahr nicht arm und war hier immer besonders erfinderisch, aber selten noch, wenn überhaupt jemals, hat man fast zwei Stunden lang der systematischen Zerstörung, genauer und wortwörtlich: Zerfleischung eines auserwählten Opfers zusehen können (oder müssen!), bis dessen Leib am Ende nur mehr eine einzige offene Wunde scheint und es bis dahin soviel Blut vergossen hat, dass es eigentlich schon hätte mehrere Tode sterben müssen.

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