9. Karl Barth: Richter und Gerichteter

Bezeichnend für die Theologie Karl Barths ist ihre Christozentrik, d.h. Christus steht durchgängig im Mittelpunkt aller seiner Überlegungen. In seinem großen theologischen Werk, der "Kirchlichen Dogmatik", die rund 10.000 Seiten umfasst und trotzdem bis zu seinem Tod unvollendet geblieben ist, entfaltet Barth in dem Band über die Versöhnung 1953 das Leiden Christi folgendermaßen: Christus - er! - ist sowohl "der Richter" als auch "der an unserer Stelle gerichtete."

Im Hinblick auf das Richteramt Christi betont Barth dabei, dass dieses nicht in erster Linie dazu dient, strafende Urteile zu verhängen sondern die Ordnung in der Welt wiederherzustellen (S.238). Dennoch handelt es sich bei dieser richtenden Funktion Christi um etwas sehr Ernstes, denn kein Mensch kann ihr gegenüber bestehen; die Menschen sind daher "verloren" (S.242). Den Ausweg aus diesem Verhängnis eröffnet ihnen Christus, indem er "an unsere Stelle trat und an unserer Stelle das Gericht, dem wir verfallen waren, über sich selbst ergehen ließ" (S.244). Der Begriff der "Stellvertretung" zieht sich wie ein roter Faden durch Barths Ausführungen.

Das Leiden Christi, die Passion, thematisiert er dann entsprechend unter der Perspektive des Gerichts. Jeder Mensch findet sich als einen sündigen Menschen vor; bei der Sünde handelt es sich um ein universales Phänomen. Sie zieht den Tod als notwendige Konsequenz nach sich. Indem nun aber Christus diesen auf die Sünde folgenden Tod erleidet, obgleich er selbst ohne Sünde war, hält er über die Sünde Gericht. Christus geht nicht zuerst mit den Sünderinnen und Sündern ins Gericht sondern mit der Sünde als solcher (S.278f). Dadurch macht er für die Menschen den Weg zur Versöhnung frei. Barth räumt ein, dass auch andere Menschen leiden und gelitten haben, manche sogar noch schlimmer als Christus. Die Besonderheit der Passion Christi besteht jedoch darin, dass in ihr Gott selbst leidet. Auf diese Weise wird sie für die Menschen bedeutsam (S.271).

Kurz und gut: Christus ist sowohl der Richter als auch derjenige, der das Gericht stellvertretend für die Menschen erleidet. So vernichtet er die Sünde und versöhnt die Menschen mit Gott.

Quelle: Karl Barth: KD IV/1. Zürich 1953, S.231-311; insbes. S.269-282

Denkanstoß: Wo bleibt Gott bei alledem? Rückt er entweder ganz an den Rand des Geschehens und spielt keine Rolle mehr, oder wird die Unterscheidung zwischen Gott und Christus so weit aufgehoben, dass da, wo Barth von Christus spricht, immer auch Gott gemeint ist?

Nils Krückemeier