Die literarische Grundlage

Der Münsteraner Exeget und Filmexperte Reinhold Zwick hat anschließend an die Äußerungen Gibsons selbst  in Deutschland als erster Theologe auf diese enge Verbindung hingewiesen. Der dort vorfindbaren Prägnanz und Vollständigkeit halber sei es erlaubt, längere Passage dieser Pu-blikation zu zitieren: „Gibson folgt Brentanos ungemein visueller, ja geradezu ‚filmischer‘ In-szenierung der ‚Gesichte‘ Emmericks oft bis in die Einzelheiten, angefangen mit der Getsemani-Szene, wenn ein Strahl des Mondlichts wie ein ‚himmlisches‘ Spotlight Jesus umfließt, über die Architektur der Paläste des Kaiphas und Pilatus bis hinein in ‚apokryphe‘ Konkretionen der Grausamkeiten: etwa, wenn Jesus auf dem Weg zum Hohenpriester über eine Brücke gestürzt wird und kurz vor dem Aufprall hart mit den Ketten, die ihn fesseln, abgefangen wird; oder auch wenn die Geißelung vorgestellt wird als sich in Stufen steigernde, systematisch die gesamte Körperoberfläche zerarbeitende Barbarei. [...] Vor allem aber sind von diesem Buch etliche der Szenen inspiriert, über deren Herkunft und Bedeutung viele Zuschauer rätseln: beispielsweise daß Claudia, die Frau des Pilatus, der Mutter Jesu und Magdalena am Rande der Geißelung reine Tücher bringt, die diese anschließend benutzten, um die großen Blutlachen in peinlichster Sorg-falt aufzuwischen [...]. Kurzum: Im Handlungsaufriß wie in einzelnen Inszenierungsideen, in der Figurenzeichnung und selbst in den Dialogen finden sich derart starke Konvergenzen, daß man mit Fug und Recht sagen kann, Gibsons Arbeit sei auf weite Strecken eher eine Verfilmung von Emmerick/Brentano als der Evangelien.“

Vor allem die Blicke der Frauen laden bei Gibson zur Compassio ein und verleihen einem Mar-tyrium Sinn, das manchen Betrachter eher als schroffe Bebilderung des Nietzscheanischen Dik-tums vom Tode Gottes erscheinen konnte.  Dies trifft auch und gerade auf die in ihrer unmittel-baren Darstellung a-biblischen und in ihrer Flüchtigkeit kaum überzeugende finale Auferste-hungsszene zu. In gewisser Weise gilt diese Verlagerung der Handlung auf eine fiktive weibliche Perspektive auch für Rosalinda Celentano, Tochter des bekannten italienischen Popsängers und berückende Darstellerin des androgynen Satans (oder der satanischen Androgynie?): Als Reakti-on auf ihre Wendung weiblicher Zartheit ins dämonisch Verschlagene, ja metaphysisch Böse wirkt Jesu Todesangst im Garten Gethsemane momentweise tatsächlich titanisch, erregt die Ver-zweiflung des Judas und des Petrus ob des eigenen Verrats am Erlöser das Mitgefühl des Zu-schauers und schlägt selbst die zu Recht kritisierte martialische Geißelungsszene noch einige soteriologische Funken.

Doch insgesamt ist doch gegen Gibsons Grundentscheidung festzuhalten: Christus ist gerade kein griechischer Heros  und seine Selbsthingabe am Kreuz nach gelebter Lehre der Proexistenz kein mythisches Opfer. Dies nicht nur bei René Girard, sondern schon bei den Kirchenvätern nachzulesen, möchte man manchem Gibson-Fan nahelegen. Dass Gibson mit Hilfe Unmengen vergossenen Blutes und unter dem Zwang (oder der Gewohnheit?) einer effektorientierten Ki-noindustrie den Sprung von der Quantität menschlichen Leidens in die Qualität universaler Heilsmittlerschaft wagt, kann man ihm selbst vielleicht nicht vorwerfen. Diejenigen, die diesen Sprung mitmachen, können das aber nur als Folge klarer glaubenshermeneutischer Vorentschei-dungen und kaum unterstützt vom Film selbst tun. Lediglich das Zitat aus Jes 53,5 das im Vor-spann kurz gezeigt wird, schlägt ja eine Brücke von der Filmhandlung zum nach wie vor heiß umkämpften stellvertretenden Sühneleiden.  Allein: Als Zitat dürfte es beim theologisch unbe-darften Zuschauer schon bald in Vergessenheit geraten, denn dem Film selbst gelingt es wohl Züchtigung und Wunden darzustellen, das Heil für die Vielen dagegen bleibt unsichtbar.