Authentizitätsprahlerei, Antijudaismus und die Notwendigkeit theologischer Reflexion
Damit sind wir an einem Punkt angekommen, der einen erneuten Blick auf DIE PASSION CHRISTI nahelegt. Auch sonst eher wohlwollende Betrachter des Filmes machen nämlich gerade hier sei-ne größten Schwächen aus: Mel Gibson und sein 33jähriger Hauptdarsteller Jim Caviezel (man beachte auch die mit Bedacht gewählten Initialen) hat immer wieder die Wirkung des Filmes vor allem aus seiner nahezu bruchlosen Identität mit der historischen Wahrheit erklärt, mit seiner Objektivität, aus der sich in seinen Augen offenbar jeder Glaube zu speisen hat. Die Einfügung einer Rahmenhandlung, die den Film als irdisches Medium und damit seine eigene Historizität offenlegen würde, gleichzeitig aber auch Identifizierungsangebote für den Zuschaer bereithielte, wie dies in Pier Paolo Pasolinis LA RICOTTA oder in Denys Arcands JESUS VON MONTREAL ge-schieht, kam ihm demgemäß erst gar nicht in den Sinn. Damit fällt Gibson jedoch hinter die Weisheit der vier – und nicht nur ein – Evangelium kanonisierenden frühen Kirche in einen Fun-damentalismus der historiographischen Unmittelbarkeit zurück. Zur Verwendung der bei Philo-logen – etwa in der Frage ob Jesus Latein gesprochen habe – höchst umstrittenen Verwendung der ‚Originalsprachen’ Aramäisch und Latein vermerkt Gibson: „I’m just trying to be as real as possible. There is something kind of startling about watching it in the original languages. The reality comes out and hits you. Full-contact.“
Mit dieser Grundhaltung hat Gibson nicht nur die Intention seiner Vorlage ausdrücklich verlas-sen. Angesichts dieses hermeneutischen – oder besser jede Hermeneutik leugnenden – Schlüs-sels zum Geschehen entwickelt jedes Detail des Filmes auch eine schwer zu steuernde Durch-schlagskraft. Dies mag man im Falle der vereinzelten missionarischen Überzeugungsleistung des erlösenden Leidens begrüßen, im Falle der Darstellung der Verursacher dieser geballt sündhaf-ten Gewalt, die sich auf dem Körper Jesu verdichtet, vor allem der jüdischen Obrigkeit und der von ihnen fehlgeleiteten Massen, geht das Vorhaben nach hinten los.
Spätestens hier ist demnach jenseits wohlfeiler Bekenntnisse zu einer volkstümlichen Darstel-lung der zentralen Glaubensgeheimnisse kritische theologische Vernunft gefragt. Ist angesichts der Antijudaismusproblematik die Verantwortung der Theologie nicht nur ad extra gegenüber einer kritische Öffentlichkeit und den „älteren Brüdern im Glauben“ , sondern angesichts der epochalen Versöhnungsangebote des aktuellen Pontifikats auch ad intra – unhintergehbar in die Pflicht genommen. Den Theologen kann die Argumentation des Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht gerade nicht zufriedenstellen, der die Unbekümmertheit Gibsons in dieser Frage in eine Linie mit dem Genre der Passionspiele stellt, Evangelienklitterung, Antisemitis-mus und Ahistorizität einer Christusdarstellung also für nicht weiter bemerkenswert hält. Die häufig – auch von Gibson selbst – gehörte Äußerung, der Film sei nicht antisemitischer als die Evangelien selbst, ist zudem vom Filmmaterial selbst her mindestens in drei Punkten zu wider-sprechen: (1.) Nirgendwo finden wir in den Evangelien eine Zerstörung des gesamten Jerusale-mer Tempels in der Todesstunde Jesu (kaum anders zu deuten denn als Ende des Alten Bundes) wie sie uns Gibson (tricktechnisch allerdings wenig überzeugend) vor Augen führt. (2.) Die Lu-kas folgende, angesichts der historischen Fakten unerträglich positive Schilderung des Pilatus, noch verstärkt durch seine, aus Emmericks Visionen stammende, mitleidige Frau Claudia lädt einen übermächtigen Großteil der Schuld am Tod Jesu beim Sanhedrin ab. Eine Tendenz, die Gibson durch suggestive Bilder etwa bei der ecce homo Szene zur Gewissheit steigert. (3.) Es klafft ein Abgrund zwischen der diskreten Gewaltschilderung in den Evangelien und den bruta-len Bilden des Filmes: Ein textuell etwa bei Matthäus übermittelter Schlag auf den Kopf Jesu durch die (jüdischen!) Knechte des Hohenpriester wirkt auf den Leser in deutlich anderer Weise ‚authentisch‘ als derselbe Schlag auf den Filmzuschauer, wenn dieser die gesamte rechte Ge-sichtshälfte Jesu für den Rest der Handlung bis zu Unkenntlichkeit zuschwellen lässt. Die gegen den Antisemitismusvorwurfs gerne ins Feld geführten noch etwas grausameren römischen Sol-daten erscheinen filmlogisch nur als Epiphänomen der jüdischen Verschwörung und ihrer List.
Darüber hinaus ist Gibsons Grundmodell einer Evangelienverfilmung kritisch zu hinterfragen, unterstellt sie doch, dass eine Aussage der Evangelien unmittelbar verstanden und also solche, untrüglich verstandene Aussage unvermittelt und ohne Prüfung autorisiert ins Bild gesetzt wer-den müsse (und könne). Wofür braucht es dann noch Kirche, Sakramente, Theologie? Hier wird der latente evangelikale Protestantismus von Gibsons Projekt, der zum Erfolg seines Filmes in den USA wesentlich beigetragen haben dürfte, noch einmal sichtbar.
Im Kontext des Antijudaismusvorwurfs rächt sich auch die Reduktion des Lebens Jesu auf eine Passion mit dürftigen stark reduzierten Rückblenden. Freilich muss es erlaubt sein, eine Passi-onserzählung ohne Vorgeschichte zu verfilmen, damit allerdings ausdrücklich die literarische Gattung ‚Evangelium‘ hinter sich zu lassen. Einer Kritik entgeht jedoch nicht, wer so agiert: Was nämlich erfährt der Zuschauer vom Juden Jesus, wenn man die Begegnung mit seinen Glaubens-brüdern auf die Passionsgeschichte reduziert? Die Arbeiten von Rosselini und Pasolini, beson-ders aber des zu Unrecht geschmähten Zeffirelli, deren ästhetischer Einfluss auf Gibsons Film sonst allerorten greifbar ist, hatten hier bereits Beachtliches geleistet und einen Jesus gezeigt, der evangeliumsgemäß und entsprechend historischer Kritik in vielfältiger Weise in Glaube und Kultur des zeitgenössischen Judentums verwurzelt war. Bei Gibson hingegen erleben wir ihn als das Opfer einer machthungrigen und korrupten Priesterkaste und der von Ihr aufgewiegelten rasenden jüdischen Masse. Von seiner Herkunft aus und seiner Verwurzelung in dieser Masse – vielleicht die eigentliche Bedeutsamkeit der Historizität des Christusereignisses – erfahren wir nichts.
Auch der unerwartete Erfolg des Films in arabischen Ländern sollte mindestens nachdenklich stimmen, dürfte er doch ebenfalls aus Gibsons Entscheidung für den Archetyp des Heros und aus dem Antagonismus zwischen jüdischer Masse und einsamem Helden zu resultieren: Auch der durchschnittliche unterprivilegierte und ideologieanfällige junge arabische Mann – es sind auf-grund der ‚günstigen Demographie‘ in den entsprechenden Staaten Millionen – dürfte sich von einer habgierigen und hämischen Rotte von Zionisten mit Billigung der aktuellen Großmacht USA bis aufs Blut geschunden fühlen – eine Situation, die dort allerdings den bewaffneten Dji-had gegen Zionisten und amerikanische ‚Besatzer’ rechtfertigt – die Gewaltlosigkeit Jesu selbst kommt im Film eben nicht hinreichend zum Tragen, umso mehr aber die Verschlagenheit und Gewaltfaszination seiner Folterer und deren Auftraggeber, seien sie Juden oder Römer.
Spätestens hier stellt sich eine anhand des Filmes erneut aufgebrochene, also nach wie vor un-gelöste Frage zum Zueinander von Theologie und Volkfrömmigkeit: Sollen die Einsichten des Konzils, exegetische und systematisch-theologische Erkenntnisfortschritte – bisher in allen ernstzunehmenden Publikationen zum Jesusfilm ein wesentliches Beurteilungskriterium – tat-sächlich unwichtiger sein, als die Privatoffenbarung einer deutschen Ordensfrau, wenn Ihre Ver-filmung nur genügend Volk in die Kinos bringt?
Trotz aller hier und andernorts aufgezählten Mängel des Filmes lässt sich nicht zuletzt seine ful-minante – auch innertheologische – Wirkungs- und Konfliktgeschichte als Aufgabenstellung für eine im guten Sinne zeitgenössische und volkstümliche Theologie lesen: „Will sie nicht in stiller Betroffenheit verharren, dann ist ihr mit den Jesusfilmen ein ausgezeichnetes Kontrastmittel zur Diagnose von Versäumnissen und übersehenen Bedürfnissen an die Hand gegeben.“ Zwar sollte man sich hüten, den Kinobesuch von 50 Millionen meist evangelikaler US-Amerikaner kurzschlüssig als Aufgabenstellung europäischer katholischer Theologie aufzufassen. Gleich-wohl ist das verbreitete Bedürfnis nach zeitgenössisch-anschaulicher Darstellung von Glaubens-wahrheiten einschließlich ihrer emotionalen Dimension ein Zeichen der Zeit, das die Theologie selbst zwar wahrnehmen muss, zu deren konstruktiver Aufnahme sie aber mit den eigenen, der Vernunft verpflichteten Mitteln kaum in der Lage sein dürfte. Hier sind Katechese und Liturgie gefragt; aber auch die Reflexion auf den theologischen und pastoralen Wert moderner Medien wie des Spielfilms dürfte nach den Erfahrungen mit Mel Gibsons Film an Bedeutung gewonnen haben.