Siehst du, was ich sehe?

Eine Kritik der Kritiken zum Film „Die Passion Christi“

Erkläre einem Blinden, wie die Welt aussieht, und du wirst erstaunt sein, wie er sie wahrnimmt.

„Die Passion Christi“ hatten die meisten noch nicht gesehen, noch wusste kaum einer, wovon hier überhaupt die Rede war, da wucherten bereits wie Unkraut Gerüchte, Diskussionen, Kritiken, Verrisse und Kommentare quer durch Lutherlands Gazetten. Während die einen ihr Heil in einer schroffen Ablehnung des Films suchten, salbten die anderen sich selbst mit Lobeshymnen über Film und Regisseur. Gemeinsam war ihnen der Blutrausch, der Kampf mit sämtlichen Klischees, die mit dem Evangelium verbunden werden. Die oftmals durchscheinende Einseitigkeit der Auseinandersetzung mit dem Film lässt freilich tief blicken in die Seele derer, die für sich in Anspruch nehmen, die historische, theologische oder künstlerische Tiefe des Films zu ergründen. Wer weiß, wie viele Filmkritiker sich „Die Passion Christi“ überhaupt eigenen Auges zu Gemüte geführt haben. Tatsache aber ist ganz offensichtlich, dass sie alle sich zur Kommentierung gerade eben dessen berufen sahen, dem viele die Berufung und damit seine eigentliche Legitimation abstreiten und den doch keiner von ihnen gesehen hat: Dem Jesus, der für unsere Sünden bezahlt hat.

Mel Gibson hätte „Die Passion Christi“ besser in Schwarzweiß gedreht, wie vormals Steven Spielberg „Schindlers Liste“. Das wäre unserer Denkweise hierzulande sehr entgegen gekommen. So mancher Publizist wäre angesichts eines vor Druckerschwärze triefenden Sohn Gottes dann sicherlich etwas mehr in seinem Element und schon eher zu einer geistreichen und differenzierten Auseinandersetzung mit dem in der Lage gewesen, was in erster Linie ein Film ist.

Dieser Film jedenfalls scheint zur Stellungnahme fast schon zu nötigen, vermutlich weil er in der üblichen christlichen Unverschämtheit Bezug auf die Existenz des Gottes der Bibel und Jesu Christi als dessen Sohn nimmt. Das allein wäre aber nichts Neues in unserer schönen bunten Medienlandschaft. Die Unerklärlichkeit der Existenz Gottes bzw. im Speziellen Jesu Christi bringt beispielsweise den „Spiegel“ dazu, alle Jahre wieder die Frage nach Gott und Jesus zu stellen und unter Deutschlands Dächern zumindest einen zu finden, der etwas auszusprechen bereit ist, was wir alle offenbar schon längst geahnt haben müssten und uns beruhigt dem weihnachtlichen Konsumrausch frei von unangenehmen Fragen über unsere eigene Schein(heiligkeit) nachgehen lässt. Dank sei den Medien für dieses Bekenntnis zum weltweit wabernden Seelenfried(hof), Dank sei dem Spiegel für diese authentische Skizzierung eines deutschen Selbstportraits.

Merkwürdigerweise müssen wir wohl überzeugt sein oder zumindest werden, dass etwas nicht stimmen könne mit diesem exklusiven Wahrheitsanspruch der Bibel, dass schon allein die menschliche Existenz von Jesus Christus alles andere als erwiesen sei, geschweige denn seine Wunder oder gar die Auferstehung, geradezu undenkbar dann aber letztlich seine Göttlichkeit. Warum das so sein muss? Würde nicht alles andere zu mir selbst führen und zu der unangenehmen Frage, in welchem Verhältnis, in welcher Beziehung ich zu diesem Ganzen stehe? Also denke ich lieber, dass ich bin und dass er nicht ist. Denn wenn er ist, wer bin dann ich?

Der Geist unserer Zeit besteht nicht darin, Fragen nach der eigenen Identität zu beantworten. Unbequeme Antworten könnten uns persönlich zu nahe treten. Das würde uns ganz bestimmt nicht gut tun, ist doch die Wahrung des Sicherheitsabstands, zuweilen sinnentfremdend auch „Toleranz“ genannt, die einzig allgemein anerkannte Ausprägung der deutschdeutschen Glaubensfreiheit der Gegenwart. Nur was bequem ist, tut gut?

Jesus stand und steht zumindest insoweit stets für Zeitgeist, als er schon immer die Liebe predigte und für die Liebe selbst sein Leben gab. Mancher hält ihn deshalb gar für homosexuell, da Liebe und Sex heute zuweilen kaum mehr auseinander zu halten sind. Einer gewissen Mehrheit unter uns gelingt es freilich insoweit zu differenzieren, und diese lieben ihren Jesus auch, den kleinen lächelnden Bub in der Krippe auf teurem Stroh vom Wochenmarkt, den Mama staubgeschützt nach Weihnachten wieder in die Kiste packt. Hätte sich Jesus je träumen lassen, dass man alljährlich für zwölf Monate minus ein paar besinnliche Tag hingebungsvoll sein Begräbnis zelebrieren würde? Wahrscheinlich schon, sonst wäre er nicht Gott.

Wie soll dazu diese zwangsläufig sinnlose Gibsonsche Gewaltverherrlichung passen, vor allem unter weitgehender Aussparung der schönen Seiten des Lebens und Wirkens Jesu auf Erden? Glücklicherweise leben wir in Zeiten, da rohe menschliche Gewalt uns als bittere Realität so fern zu sein scheint, dass sie vor allem Unterhaltungswert genießt, dafür aber um so mehr. Schaulustige am Kreuz Golgatha würden auch heute noch zu kilometerlangen Staus führen. Es ist noch gar nicht solange her, da „Der Soldat James Ryan“ es unternahm, der cineastischen Gewaltdarstellung ihrer Unschuld zu berauben und ihr inhaltliche Bedeutung zu verleihen. Damals wurde auf die Leinwand eine bis dahin wohl so noch nie da gewesene Nähe zur Gewalt(wirkung) gebannt, die den sensiblen Zuschauer hätte satt machen können, vielleicht auch sollen. Anstatt Steven Spielberg jedoch für dieses als gerade noch verdauliches Konsumgut verpackte Stück Ehrlichkeit über den spätestens seit Thomas Hobbes, eigentlich aber bereits seit dem alten Testament bekannten menschlichen Wesenszug der (Selbst)Zerfleischung dankbar zu sein, wurde er eben dafür angeprangert und in die Ecke gestellt. Allerdings geschah dies nur, um Platz zu schaffen für eine neue Welle an leinwandfüllender Fiktion von Gewalt, Horror und Sex ohne verstörendes Hinterfragungspotential.

Vor diesem Hintergrund paart nun „Die Passion Christi“ absolut widersinnigerweise den lieben Jesus mit der bösen Gewalt und macht aus dem schönen Bild von der Liebe einen bluttriefenden Gipsabdruck menschlicher Grausamkeiten. Die Evangelien liefern derart nüchtern karge Berichte im Stile von Gerichtsprotokollen ab, dass es dem ((fern)seh)gesteuerten Menschen von heute offensichtlich kaum vorstellbar erscheint, was sich hinter den Begriffen des Schlagens, des Auspeitschens, einer Dornenkrone und einer Kreuzigung bei lebendigem Leibe in Realität verbirgt. Wer soll das schließlich auch verkraften? Wo bleibt da die theologische Tiefe? Können wir so viel Realität unseren Konfirmanden überhaupt zumuten? Wenn Jesus aber wirklich so gelitten haben sollte, wie es das Filmblut vermuten lässt (übrigens ist keine Kritik ersichtlich, nach der die viel gescholtene Darstellung der damaligen Foltermethoden unglaubwürdig sei), und wenn Jesus tatsächlich mit diesem Leiden und seinem Leben den Preis für unsere Schuld bezahlte, dann müsste diese Schuld wahrlich nicht gering sein. Wer wollte da noch Schuldner sein? Wehe uns, wenn der Weg zu der Liebe, nach der alle Welt lechzt, über Golgatha, die Schädelstätte, zum Kreuz und durch das Blut Jesu Christi führen sollte. Dann hätten wir doch am Ende selbst dieses Blut an den Händen, das sich schon im Kinosessel so unappetitlich ansehen lässt.

Damit ist letztlich auch die Frage nach dem latenten Antisemitismus beantwortet. „Die Passion Christi“ hätte wohl nur Engel jüdischen Glaubens abbilden dürfen und dennoch den heißen Atem Michel Friedmans im Nacken gespürt. Das an sich stellt schon die Glaubwürdigkeit dieses Einwands in Frage. Herr Friedman beruft sich bei seiner Kritik am Film auf das Zweite Vatikanische Konzil. Darin steht: „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.“ Seit dem 18.03.2004 kann sich jeder selbst davon überzeugen, ob „Die Passion Christi“ tatsächlich im Widerspruch zu dieser Aussage des Vatikans steht. Letztlich führt der Streit über die Verantwortung von Juden am Tode Jesu Christi aber eindeutig in die Irre. Denn wären alle anderen ohne Sünde, hätte Jesus Christus sich nicht mehr für alle Menschen opfern müssen. Dann hätte er sich auf seine Peiniger beschränken können, die freilich nichts von ihm wissen wollten, und wäre demnach wohl nicht einmal in den Kommunalnachrichten erwähnt worden. Jesus meinte jedoch, wir alle hätten etwas mit seinem Blut zu tun. Fragt sich bloß noch, was das sein könnte.

Die Frage führt zurück zum Ausgangspunkt. Am Anfang des Films steht sein Titel: „Die Passion Christi“ umschreibt in feinstem Kirchendeutsch das, was sich dahinter verbergen soll.

Passion steht für Leid und Tod von Jesus Christus, bedeutet allerdings allgemein auch Leidenschaft. Christus steht für Messias, für den Heilbringer des einen Gottes. Gott, wie ihn die Bibel beschreibt, steht für den allmächtigen Schöpfer aller Existenz ausgenommen seiner selbst, da er ewig ist und daher keinen Anfang hat. Der leidenschaftliche Gang in den Tod des Heilsbringers Gottes hat nichts von dem Heldenbild der Gegenwart. Er beeindruckt, verstört und wirft Fragen auf. Er würde, soweit die biblischen Überlieferungen wahr sind, durch die Offenbarung Gottes in der Person Jesu Unsichtbares sichtbar, wenn auch nicht ohne Weiteres verständlich machen. Er würde uns vor Augen führen, dass wir Bildkonsumenten trotz, vielleicht aber gerade wegen unserer Fixierung auf unsere Augenblicke blind sind und an einem möglicherweise wesentlichen Teil der Wirklichkeit vorbeileben. Fehlt bloß noch, dass eine Stimme aus dem Himmel ertönt und spricht: „Sag mal, in welcher Welt lebst du eigentlich?“ Diesen Spezialeffekt hat uns Mel Gibson offenbar erspart. Auch Hollywood kaut nicht immer alles vor.

Da es dem Trend von heute entspricht, in keinem Fall etwas verpassen zu wollen, müssten eigentlich nach einem auch durch harsche Filmkritik nicht zu bremsenden Sturm auf die Kinosäle die Massen in Richtung Kirchen strömen, es sei denn, die Kirchen hätten sich bzgl. der Frage nach dem Christus bereits disqualifiziert. Nach mancher Äußerung von Kirchenvertretern zu urteilen, müssten Deutschlands Kirchen alle rund sein. Anders der neue Film von Mel Gibson: „Die Passion Christi“ kommt eckig und kantig daher. Man kann sich daran stoßen, aber man kann auch etwas damit anfangen.