Wie ich "Die Passion Christi" erlebte
Ein Kommentar von Josef C. Haefely
Montagabend 8. März 2004 im Münchner Grossstadtverkehr. In der Abenddämmerung halte ich nach einem Parkhaus Ausschau, möglichst in der Nähe jenes Kinos, das mir als Ort des privaten Preview des Films "The Passion of the Christ" angegeben worden war. Wie ich zu dieser Gelegenheit gekommen sei, werden sich einige fragen. Erst Tage zuvor hatte mir ein Bekannter mit Kontakten zur Filmbranche eine persönliche Einladung zugesandt, für mich völlig überraschend. Nach ein paar organisatorischen Umstellungen - eigentlich habe ich keine Ferien - und mehrstündiger Autofahrt finde ich ich mich in der bayerischen Hauptstadt wieder. Soeben habe ich in der Innenstadt die Übersicht verloren, wende nach einer irrtümlichen Brückenüberquerung meinen Wagen, bestimme eher intuitiv die Richtung meiner Weiterfahrt und sehe endlich ein blaues Parkhausschild vor mir. Die Treppe hochsteigend gewahre ich, dass ich im Parkhaus jenes Kinos gelandet bin, wo der Film gezeigt werden soll; GPS der anderen Art!
In den Tagen zuvor hatte ich Diskussionen geführt, inwieweit die kinematografische Darstellung der Leidensgeschichte Jesu eigene innere Bilder bereichern oder zerstören könne. Vielleicht kennen Sie den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Seine Version der Kreuzigung ist berührend, ein Produkt seiner Zeit, und der Künstler hatte sich die Freiheit genommen, den geschundenen Körper mit der eben grassierenden Seuche des 'Antoniusfeuers' darzustellen. Ein Kunstgriff: Meister Matthias malte für die Ärmsten seiner Zeit. Er zeigte den Kranken, dass ihr Gott auch ihre Krankheiten mitgelitten habe. Gerade die drastische Darstellung sollte den Menschen von damals Trost spenden. Ob Mel Gibson nicht ähnlich dachte? Vielleicht hat auch Meister Matthias damals Kritik einstecken müssen, er übertreibe in der Darstellung der Leiden.
Die Frage nach der Wahrheit biblischer Darstellungen ist durchaus nicht neu. Seit Jahren beschäftige ich mich mit christlicher Ikonographie und ihren Ursprüngen. Erstaunlich das Abgehen der Christen vom mosaischen Bilderverbot. Christliche Darstellungen können vielleicht nie neutral sein, immer sind sie irgendwie eingewoben in die "Propaganda fidei", der Verkündigung des christlichen Glaubens, oder sie dienen allenfalls als Instrument kritischer bis ablehnender Befragung von Bibel und Kirche. Der Isenheimer Altar erzählt genausoviel über den Künstler, seine gesellschaftlichen Stellung und die Sichtweise und Probleme seiner Zeit. Das werden wir auch bei Gibson finden, geht es mir durch den Kopf. Ich erwarte von ihm gutes Hollywood-Handwerk, eine als Ganzes bibelgemässe Handlung, dazu einen Hauch filmischer Archäologie und bin gespannt auf die Schauspieler und ihre Sprache.
Meine Neugierde war bereits vor über anderthalb Jahren geweckt worden. Im August 2002 stolperte ich über eine kurze spöttische Meldung über Mel Gibson als "Vollbart-Jesus", (8.8.02: Mel Gibson ist "Jesus Christus Superstar" www.ombas.de/2002_08_01_archive.html ). Dass "Braveheart" einen Film in zwei toten Sprachen drehen wollte, erregte einige Zeit später von Seiten der Presse zumindest etwas öffentliche Aufmerksamkeit; der Name James Caviezel als Jesus-Darsteller löste höchstens ein Stirnrunzeln aus. Am 7. Juli 2003 ging ich mit meiner Passion-Website online und verfolgte seither alles mit Interesse, was sich im Set und darum herum abspielte. Die nächste Tretmine löste irgend ein Jounalist durch die Meldung aus, Gibson sei Mitglied einer extremistischen katholischen Splittergruppe. Während sich daraufhin in Amerika die jüdische Anti Defamation League aufmunitionierte, freute ich mich hier auf einen Film, der im Gegensatz zur "Letzten Versuchung Christi" oder des spöttischen "The Life of Brian" endlich mal glaubwürdig in Szene zu setzen suchte, womit ich mich in nebenberuflichen ikonographischen, biblischen und historischen Studien schon lange Jahre befasst hatte, die letzten Stunden Jesu. Alle relevanten Forschungsergebnisse zum Turiner Grabtuch waren mir schon lange bekannt, ebenso die detailreichen Passions-Visionen der Augustinernonne Anna Katharina Emmerick. Und endlich war da einmal einer, der das Zeug zu haben schien, dies nach allen Regeln seiner Kunst und mit den notwendigen finanziellen Mitteln in Szene setzen zu können. Darauf hatte ich eigentlich nur gewartet.
Und nun sitze ich da in diesem Münchner Kinosaal, um mich herum so 160 Leute, der Film ist eingefädelt und es kann losgehen.
Angenehm, den Film ohne Unterbrechung und ohne vorausgehende Werbung zu sehen. Eine Vollmondnacht, der Garten Getsemane, eine wankende Gestalt tritt von rückwärts ins Bild, vor ihr die schlafenden Apostel. Gibsons Arbeit mit wenig bekannten Gesichtern liessen mich gerade von der schauspielerischen Leistung her einige Überraschungen erhoffen, und ich werde nicht enttäuscht. Petrus widerspiegelt in seiner impulsiven menschlichen Art genau das in der Bibel gezeichnete Bild dieses einfachen Fischers, der im Strudel der Ereignisse sich selbst bleibt, im Gegensatz zur ebenfalls meisterhaft verkörperten Rolle des Judas Iskariot. Gibson erzählt bedächtig, in grossen, starken Bildern, die der Dramatik gerecht werden. Verhör Jesu in der Nacht. Die aggressive Spannung liegt förmlich in der Luft und entlädt sich in ersten Schlägen gegen den Verhafteten. Wer einfach mal den Passionsbericht der Evangelien sehen möchte, wird nicht enttäuscht. Er findet sich mitten im Gerichtssaal wieder, wird Teil der Menschenmenge, nimmt Stellung, bangt mit. Geisselung. Ein letzter Blick zum Himmel, bevor das grausige Ritual beginnt. Die Hiebe werden einzeln gezählt, auf Latein. Überhaupt, jeder Gymnasiast wird die Ohren spitzen, wenn Jesus - ob nun historisch in dieser Sprache oder nicht - dem Pilatus erklärt, dass er ein König sei. Ein Glanzlicht setzt für mich der Schweizer Jarret Merz als Simon von Cyrene, der Jesus das Kreuz tragen hilft. Diese Szene einer Wandlung vom zufällig anwesenden frommen Juden, der sich am liebsten aus allem raushalten möchte, zu einem fast zärtlichem Freund des gequälten Rabbi ist in ihrer Konzentration einmalig. Wie er dem Gequälten und Geschlagenen in seltsam tröstlicher Absicht ins Ohr flüstert: "Schau, wir sind bald da, es ist ja nicht mehr weit..." gehört zu den schönsten Sequenzen des Films überhaupt. Seine Rolle wird nur noch übertroffen von Maja Morgenstern als Mutter Jesu. Ihre herbe Feminität und selbstverständliche Mütterlichkeit so ganz ohne süssliche Entgleisungen mit einer Monica Bellucci als Maria Magdalena an ihrer Seite ist ein Glücksfall und schafft eine Atmosphäre, die der Hauptperson, Jesus von Nazareth, erst ihre Deutung gibt. Und wenn man um die zeitgleiche reale Schwangerschaft der Maja Morgenstern weiss, und dass jede ihrer Filmtränen echt war, so ist dem kaum noch etwas beizufügen. So ist sonst nur Dokumentarkino. Eigentlich wird der Film erst durch die Figur der Mutter zur Passion Christi. In ihren Augen wandelt sich die brutal langsame Darstellung einer Hinrichtung zu einer intensiven Beziehungsgeschichte und die Mutter Jesu wird zur Projektionsfläche des Leidens.
Ob man nun Christ ist oder nicht, eines mag unbestritten sein: was Jim Caviezel aus seiner unmöglichen Rolle des gekreuzigten Erlösers macht, ist einmalig und sah man in dieser Art nie zuvor im Kino. Spontan fällt mir dazu das Wort "Die Bürde der Würde" ein. Rein physisch war die Darstellung ein Kraftakt ohnegleichen, wie aus zahlreichen Interviews mit ihm hervorgeht. Hier gelingt Gibson endlich das, woran alle Vorgänger eigentlich gescheitert sind, die Realität der Kreuzigung. Wenn in den letzten Wochen gebetsmühlenhaft die Abscheulichkeit dieser "sado-masochistischen Blutorgie" beschworen worden war, wenn Journalisten sich in ihren blutigen Beschreibungen zu übertreffen suchten bis hin zum "blutigen Fleischklops namens Jesus" in der taz, so zeigt das eigentlich nur, dass Gibson seinen Anspruch vollauf eingelöst hat. Derselbe Vorwurf traf übrigens schon die ersten Christen: wie ein vernünftiger Mensch einen Menschen als Gott verehren könne, der derart grässlich zu- und hingerichtet worden war. Der Skandal wiederholt sich. Auch darf ich anfügen, dass ich auf filmische Gewaltdarstellung normalerweise eher empfindlich reagiere. Es gab eine einzige Szene, bei der ich unwillkürlich die Augen schloss: als die Arme Jesu bei der Kreuzigung aus den Gelenken gerissen wurden, weil im Querbalken das vorgesehene Loch für den Nagel der rechten Hand zu weit aussen vorgebohrt worden war. Ich möchte auch die Geisselszene nicht verniedlichen. Es hat tatsächlich sehr brutale Szenen in dem Film. Aber all diese hysterisierenden Splatter-Ausdrücke der letzten Pressewochen zeigen nur die Hilflosigkeit der Kommentatoren. Der filmischen Dramaturgie werden sie in keiner Weise gerecht. Gläubige Christen und offene Menschen haben in den Worten Jesu "Vater, vergib ihnen..." einen Schlüssel in der Hand, all die grässlichen Szenen einordnen zu können; der Gaffer wird sich ergötzen oder aber entsetzt abwenden. Wenn Menschen die in Interviews immer wieder geäusserte lautere Absicht des Regisseurs nicht akzeptieren können, wie sollten sie dann von meinen Worten überzeugt werden, dass Gibson Gewalt zeigt, um Gewaltlosigkeit zu predigen?
Kurz vorher hatte ich auch ein paar Interviews mit Gibsons Sound-Crew gelesen und jenes ziemlich Eigenartige mit dem Komponisten der Filmmusik John Debney, der seine Arbeit als "Kampf mit dem Satan" beschrieben hatte ( worldnetdaily.com/news/article.asp ). Details um seltsame bis wunderbare Ereignisse rund um die Entstehung des Films tauchten in Interviews immer wieder auf und werden ebenso regelmässig von Kommentatoren als raffinierte Werbemittel wegzuerklären versucht. Ist Gibsons hoher Anspruch, einen Film zu schaffen, der auch nach hundert Jahren noch glaubwürdig wirkt, überhaupt einzulösen? Wie kommt ein Regisseur überhaupt dazu, einen solchen Anspruch an einen Film zu stellen? Ich bin überzeugt, dass auch Matthias Grünewald mit derselben Ambition seinen Isenheimer Altar gemalt hat. Nur wer den Anspruch stellt, hat die Chance, ihn je einlösen zu können. Wir werden unsere Nachgeborenen mal danach fragen müssen. Sie werden den Film stylgeschichtlich ins frühe 21. Jahrhundert einordnen. Heute habe ich eine professionelle Filmkritik gelesen, die dem Film vorwirft, in seiner Machart gängiges Hollywoodkino zu sein. Zumindest das wird man dem Film in einem Jahrhundert nicht mehr vorwerfen sondern ihn daran messen, wie gut er dies vor diesem Hintergrund verwirklicht habe. Es gab auch in der Spätgotik gute und weniger gute Künstler. Und dem Komponisten Johann Sebastian Bach wurde seinerzeit vorgeworfen, konservativ zu komponieren. Wer kennt noch die Namen der Kritiker?
Quelle: www.haefely.info/mel-gibson_the-passion_preview-muenchen-08.03.2004.htm