6. Martin Luther: Kreuzestheologie
Wo Martin Luther sich Gedanken über das Leiden Christi und über das Heil der Menschen macht, denkt er stark in forensischen Kategorien, d.h. er stellt sich die Dynamik zwischen Gott und Menschen so wie eine Gerichtsverhandlung vor. So zum Beispiel auch in seiner "Heidelberger Disputation" aus dem Jahr 1518: Die Menschen sind durchweg Sünder. Sie stehen schuldig vor den Augen Gottes, ihres Richters, da. Alle guten Werke, die ein Mensch vollbringt, können seine Schuld nicht ausgleichen; im Gegenteil! Indem ein Mensch sich durch gute Taten das Ansehen Gottes verdienen will, wird er nur immer noch schuldiger (These III). Aus diesem Grund haben die Menschen nichts anderes als das Todesurteil verdient. Um den Zusammenhang zwischen der Sünde und dem Tod auszudrücken, spricht Luther hier von "Todsünde".
Die einzige Hoffnung, die dem Menschen bleibt, liegt in der Gnade Christi (These XVII). Unter Gnade stellt Luther sich also einen Vorgang vor, in dem der Richter ein hartes aber verdientes Urteil außer Kraft setzt. Solche Gnade kann ein Mensch dann erlangen, wenn er sich Christus zuwendet. Gott selbst hat sich ja schon den Menschen zugewandt; und zwar liegt seine den Menschen zugewandte Seite gerade in seiner Menschlichkeit und Schwachheit (These XX). So rückt das Kreuz in den Mittelpunkt des Interesses Gottes. Nur hier kann ein Mensch die Gnade Christi finden. Folglich muss wahre Theologie für Luther immer Kreuzestheologie sein (lat: theologia crucis; These XXI). Gerechtigkeit als einen Freispruch von der Sünde erhält ein Mensch allein aus Glauben, indem er sich vertrauensvoll an Christus den Gekreuzigten wendet.
In der Kürze liegt die Würze: Richtige Theologie ist Kreuzestheologie, denn nur im Glauben an den gekreuzigten Christus findet ein Mensch Gnade und wird von der Schuld der Sünde freigesprochen.
Quelle: Martin Luther: Die Heidelberger Disputation (1518). In: Luther Deutsch, Bd. 1 (hg. v. Kurt Aland). Stuttgart 1969, S.379-394
Denkanstoß: Was steht nun im Vordergrund - die Liebe oder die Gerechtigkeit Gottes? Vollstreckt Gott das Urteil für den Menschen einfach an Christus (Gerechtigkeit), oder setzt er das Urteil völlig aus (Liebe)?
Nils Krückemeier