7. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Blut- und Wundenfrömmigkeit

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand innerhalb der evangelischen Kirche die Erneuerungsbewegung des sogenannten Pietismus. Der Name "Pietismus" leitet sich vom lateinischen Wort pietas (= Frömmigkeit) her. Den Pietisten lag nämlich besonders der persönliche Glaube eines Menschen am Herzen. Dabei betonten sie besonders die innere Verbindung mit Jesus Christus, die im glaubenden Menschen entsteht.

Innerhalb des Pietismus gab es verschiedene Spielarten; eine der einflussreicheren unter ihnen hatte ihr Zentrum in der Gemeinschaft von Herrnhut, die von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gegründet worden war. Auf dem Boden des Herrnhuter Pietismus wuchs nun die sogenannte Blut- und Wundenfrömmigkeit. Zinzendorf nahm die Kreuzestheologie Luthers auf und verband sie mit den romantischen Gefühlen einer persönlichen Liebesbeziehung zu Christus.

Am Ende dieses Verschmelzungsprozesses steht ein reichlich merkwürdiges Ergebnis. Gerade das sonst als abstoßend empfundene Leiden Christi wird hier zum zentralen Objekt der Liebe. So heißt es in einem Lied, das in Zinzendorfs Gemeinschaft gebräuchlich war folgendermaßen: "Wahrlich, liebes Lämmelein! / Du bist meine einz'ge Freude, / denn ich weide / seliglich am Wunden-Bach: / meine Sach / ist im blut'gen Gnaden-Meere / zu vergessen alles Schwere. / Gut ist's sein in diesem Fach. - Lamm! Du hast die Welt gemacht: / Ich bin auch dein Kreatürlein / und dein Tierlein, / das dich um die Wunden liebt, / und sich gibt / deinem Kreuz zu einem Lohne, / deiner Hand zu einem Tone; / das dich gar nicht gern betrübt." Die Bedeutung der Blut- und Wundenfrömmigkeit ließ jedoch schon bald wieder nach.

Kurz und präzise: In der Blut- und Wundenfrömmigkeit verbanden sich Luthers Kreuzestheologie und die persönliche Glaubensbeziehung zu Christus, so dass die Glaubenden gerade dem leidenden Christus Gefühle der Liebe entgegenbrachten.

Quelle: Kleines Brüdergesangbuch. Des ersten Buchs anderer Theil. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente (hg. v. E.Beyreuther u.a.). Hildesheim 1978, S.10

Denkanstoß: Verlangt die Liebe zu Christus als dem Gekreuzigten von den Glaubenden nicht einen emotionalen Spagat? Ist es möglich, die Leiden Christi in ihrem grausamen Ausmaß wertzuschätzen und sie gleichzeitig mit romantischen Gefühlen zu lieben?

Nils Krückemeier