Dramaturgie und Inszenierung

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Dass das Zerrbild des Hohen Rats so schwer erträglich ist, hängt auch mit der Konzentration auf die letzten zwölf Stunden Jesu zusammen. Nachdem keine "sachdienlichen" Rückblenden vorhanden sind, fehlt auch eine vorbereitende Konfliktgeschichte, die das Staccato der Anklagen motivieren könnte. Als Gipfel des Prozesses vor Kaiphas wird zwar die von Jesus positiv beantwortete Messias-Frage inszeniert, aber zugleich ist klar, dass Jesu "Todesurteil" schon bei der Gefangennahme festgestanden hatte. Wie im "Bitteren Leiden" wird im Hof des Hohenpriesters bereits das Kreuz gezimmert, als Jesus dort ankommt. Nur: die Gründe für all den Hass, der über Jesus hereinbricht, bleiben ganz der Phantasie oder dem Vorwissen des Zuschauers überlassen.
Ihm traut Gibson überhaupt einiges an Bibelfestigkeit zu. So wollte er die Geschichte anfangs wie in der Stummfilmzeit ganz ohne Untertitel erzählen, und es dauerte lange, bis ihm wohl seine Marketing-Abteilung diese fixe Idee ausgeredet hatte. Wem beispielsweise die Episode von der Ehebrecherin (hier einmal mehr mit Magdalena identifiziert) unbekannt ist, der wird Mühe haben, die fragmentierte Rückblende auf sie zu verstehen; und nur wer sich in den christlichen Legenden gut auskennt, wird die Ankerpunkte für solche wahrnehmen, die Gibson in seine Erzählung eingelassen hat: etwa die Bekehrung des Malchus oder die von Pär Lagerkvist ausgebaute Legende von der späteren Christusnachfolge des Barabbas, die Gibson allein mit einem intensiven, den Freigelassenen sichtlich "treffenden" Blick Jesu exponiert.

Aufgrund der ausufernden Darstellung der Grausamkeiten sind die meisten Charaktere recht flach geraten. Mehr an Tiefenprofil gewinnt durch ihre intensive Präsenz vor allem die Mutter Jesu (Maia Morgenstern), die deutlich an die Maria in Franco Zeffirellis Fernseh-Vierteiler „Jesus von Nazareth“ (1976) erinnert. Wie sein Vorgänger zeichnet sie auch Gibson ohne große Worte als eine von tiefem Wissen um Gottes Heilsplan erfüllte Mater Dolorosa. Klischeehaft bleiben hingegen die meisten anderen Freunde und auch Gegner Jesu, etwa der wie gehabt dekadente Herodes Antipas (siehe „Jesus Christ Superstar“), der nachdenklich werdende Centurio "Abenader" (so benannt nach Emmerick/Brentano) wie auch Maria Magdalena, die ewig leidende Ex-Sünderin mit aufgelöstem Haar, und Johannes und Petrus, die neben Judas einzigen aus dem Jüngerkreis, die überhaupt nennenswert ein "Gesicht" erhalten.
Judas wiederum ist stark in den Szenen, in denen er vor Schuldgefühlen wahnsinnig wird und sich erhängt. Doch die in den Evangelien selbst vielstimmig orchestrierte Frage, weshalb er Jesus verraten habe - für viele Literaten und Regisseure ein Anstoß zur Entwicklung eines komplexen Charakters - bleibt diffus auf das Motiv der Geldgier ausgerichtet. Das gibt dann wiederum Gelegenheit, die Hohenpriester gleich bei ihrem ersten Auftritt nach dem üblen Klischee des "Schacherjuden" zu exponieren.
Auch der von Jim Caviezel vorgestellte Jesus bleibt bei allem Leiden wenig einprägsam. In den knappen Rückblenden erscheint er seinen Zuhörern als netter, sanftmütiger Prediger und seiner Mutter als ein liebevoller, zu Scherzen aufgelegter Sohn, auf den sie auch von seinem Aussehen her stolz sein kann. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht, gepflegtem Langhaar und der muskulös-virilen Statur passte er auch sehr gut in Bettina Rheims "I.N.R.I."-Fotobuch, in seiner Leidensgestalt hingegen auf das Cover einer neuen Emmerick-Ausgabe (zum Beispiel in jener Großaufnahme, die das Presseheft ziert). Doch irgendein Charisma, das Jesu Wirkung erahnen ließe, kann Caviezel nicht entwickeln. Dazu ist er viel zu sehr auf den Leidenskörper reduziert, der weit mehr durch die seiner Haut eingravierten Wunden sprechen soll, als durch die wenigen Worte aus seinem schon bald blutig geschlagenen Mund.

Die Kamera ist auf der Höhe der Zeit, vorab was das Action- und Horrorgenre angeht. Wirklich originelle Bildfindungen sind jedoch selten. Mutig sind, neben den wiederholten subjektiven Blicken Jesu, die beiden "Gottesblicke" hinab auf Golgotha: Durch ein Froschaugen-Objektiv aus einer hohen Vogelperspektive gesehen, wölbt sich der Richtplatz wie zu einem kleinen Globus, so als wollte damit die kosmische Dimension des Erlösungsgeschehens angezeigt sein. Gelinde gesagt eigenartig wirkt es dann aber, wenn die Linse tricktechnisch zu einer Art "Träne Gottes" zusammenschnurrt und eine zweite Optik die Bahn dieses Tropfens verfolgt, bis er auf der Schädelstätte einschlägt und das Begleitwunder des Erdbebens auslöst. Noch einmal schwingt sich dann das "theomorphe" Kamera-Auge in diese erhöhte Perspektive, um von oben den Satan auf der nunmehr rissigen, verdorrten Erde Golgothas toben zu sehen - weil er seine Niederlage erkennt, da er das Erlösungsopfer nicht hat aufhalten können.
Nach all den Schmerzen muss Gibson dann noch ein österliches Fenster öffnen, und er tut es erfreulich kurz und ohne den sonstigen naturalistischen Gestus: Nach einem langen Stück Schwarzfilm finden wir uns im Innern der Grabkammer wieder und sehen den Rollstein langsam den Eingang freigeben. Eben erst scheint der Leichnam Jesu das Tuch, das ihn auf einer Steinplatte umhüllt hatte, verlassen zu haben, ist es doch gerade dabei, in sich zusammenzusinken, als es in den Blick der Kamera kommt. Dann sehen wir vor ihm sitzend, im Profil und golden und rein leuchtend den Auferstandenen, bis dieser aufsteht und nach rechts, auf die glücksverheißende Seite, aus dem Grab und aus dem Bild geht.

Reinhold Zwick

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