<a name="anfang">4. Anselm von Canterbury: Gottes Leidensunfähigkeit
Im 11. Jahrhundert, In der Zeit also, in der Anselm von Canterbury über Gott nachdenkt, greifen die klügsten Köpfe auf die Ideen der griechischen Philosophie zurück. Für das griechische Denken ist es jedoch sonnenklar, dass Gott nicht leiden kann. Seine Erhabenheit gegenüber allem Menschlichen kommt gerade darin zum Ausdruck, dass er frei von solch irdischem Ballast wie der Gefühlsduseligkeit existiert.
Da Anselm seinen Zeitgenossen die Botschaft des christlichen Glaubens nahebringen will, muss er sich den Gegebenheiten anpassen und den Impulsen der griechischen Philosophie Rechnung tragen, indem er die Größe Gottes kompromisslos ernst nimmt. Er steht so vor der Herausforderung, die Erhabenheit und Leidensunfähigkeit Gottes einerseits und seine barmherzige Zuwendung zu den Menschen andererseits zusammenzudenken. Dazu unterscheidet Anselm zwischen Gottes Barmherzigkeit im Hinblick auf sich selbst und Gottes Barmherzigkeit im Hinblick auf die Menschen. Anselm redet Gott persönlich an: "Du bist barmherzig ... nach unserem Empfinden und nicht nach Deinem. ... Wir verspüren die Wirkung des Barmherzigen, Du spürst keine Rührung."
Das Leiden Jesu Christi thematisiert Anselm in diesem Zusammenhang zwar nicht; sein Ansatz lässt sich aber darauf übertragen. Unter der Voraussetzung, dass Jesus Christus wirklich voll und ganz Gott ist, hieße das: Jesus leidet nur in den Augen der Menschen; er selbst empfindet dabei allerdings nichts. Er leidet allenfalls seiner menschlichen, nicht aber seiner göttlichen Natur nach.
In aller Kürze: Gott wendet sich den Menschen zwar zu, aber er empfindet dabei nichts. Die Menschen hingegen erleben diese Zuwendung Gottes als leidenschaftlich und barmherzig.
Quelle: Anselm von Canterbury: Proslogion (Anrede), Kap. 8. Z.B. hg. v. Franciscus Salesius Schmitt. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, S.94-95
Denkanstoß: Hat Jesus wirklich voll und ganz gelitten oder sah es für die Menschen nur so aus? Schmälert es Gottes Größe, wenn er leidet?
Nils Krückemeier