Zum Antisemitismusvorwurf gegen den Film "Die Passion Christi" von Mel Gibson 2004

von David Schmidt, Theologe.

I. Gemeinsame Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland, der DBK und der EKD

Pünktlich zu seiner Premiere am 18.3. erschien eine gemeinsame öffentliche Erklärung zum Film, die der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. h.c. Paul Spiegel, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Karl Kardinal Lehmann, und der  Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, unterzeichnet hatten. In dieser kurzen Stellungnahme wird das Problem des potentiellen Antisemitismus doppelt so ausführlich behandelt (!) wie das der drastischen Gewaltdarstellungen.

Differenziert wird zwischen einer etwaig antisemitischen Intention des Filmes und einer möglichen externen Instrumentalisierung für antisemitische Zwecke. Erstere wird zwar nicht ausdrücklich unterstellt, jedoch gewinnen die Unterzeichner der Erklärung trotz "Ansätze[n] zu Differenzierung in der Darstellung der jüdischen Figuren ... insgesamt ... den Eindruck einer negativen Überzeichnung zum Beispiel des Hohen Rates und breiter Schichten des jüdischen Volkes."

Noch deutlicher wird vor Instrumentalisierung des Filmes für antisemitische Zwecke gewarnt: "Die Darstellung des Films birgt die Gefahr, dass antisemitische Vorurteile wiederaufleben. Dies ist besonders brisant angesichts einer Situation in Europa, in der ein Erstarken antisemitischer Tendenzen erkennbar ist." Das Schreiben schließt mit den Worten: "Wir fordern alle Verantwortlichen auf, entschieden dafür einzutreten, dass diese guten Beziehungen [zwischen Juden und den christlichen Kirchen] nicht durch eine sich auf diesen Film berufende Instrumentalisierung des Leidens Jesu beeinträchtigt werden."
 

II. Faktischer Antisemitismus und Reaktionen darauf

Dass Judenverfolgung und Antisemitismus einen besonders dunklen Fleck christlicher Glaubensgeschichte darstellen, ist bekannt. Besonders verschärft stellt sich die Situation in Deutschland dar, in der das Verhältnis von Juden und (deutschen) Christen durch die Schoa in der Nazi-Zeit furchtbar verschärft wurde. Weder die zeitliche Distanz von fast 60 Jahren, noch positive Einzelereignisse wie das auch von kirchenfernen Beobachtern als historisch gewertete öffentliche Schuldbekenntnis des Papstes im Jahr 2000 in Israel haben das Thema enttabuisiert.

Heute scheinen zwei gegenläufige Tendenzen beobachtbar zu sein: einerseits reagiert (auch in Deutschland) die Öffentlichkeit auf Verletzungen des Verhältnisses zu Juden immer noch mit großer Sensibilität und scheut nicht, diese entsprechend zu demonstrieren (etwa im Hinblick auf unbedarfte Äußerungen von Politikern). Andererseits ist der oben zitierten Erklärung Recht zu geben, dass sich diese Reaktionen vor der bedenklichen Folie eines in nicht wenigen europäischen Ländern zu beobachtenden politischen Rechtsrucks und Antisemitismus abspielen. Es ist daher gut und wichtig, dass von höchster Kirchenebene entsprechende deutliche Signale gesandt werden wie in o. g. Erklärung.

Was bedeutet dies für die Einschätzung des Filmes? Ich schlage eine Antwort in drei Schritten vor: Zuerst sollte die filmische Darstellung der Juden im Verhältnis zu der der Römer untersucht werden. Zweitens muss geprüft werden, ob die Darstellung der Juden und Römer im Film ihrer Darstellung in der Bibel entspricht. Falls ja, muss in einem dritten Schritt die Frage nach Antisemitismus an die Bibel selbst weitergeleitet werden.
 

III. Darstellung der Juden und Römer im Film

Unleugbar kommen der Hohepriester, der Hohe Rat und große Teile des jüdischen Volkes im Film schlecht weg: der Hohe Rat führt den Prozess im Widerspruch zu den juristischen Vorgaben, der Hohepriester fungiert als Volksagitator, die Volksmenge ist ein manipulierbarer Mob, Herodes ein alberner Feistling. Auf der anderen Seite jedoch werden Maria, die Mutter Jesu, die Ehebrecherin, Johannes (bzw. der "Lieblingsjünger"), und die anderen Jünger zumindest teilweise, als treue, liebevolle Nachfolger Jesu geschildert. Und vor allem: Jesus selbst ist Jude! Ob die quantitative Minorität der positiv geschilderten Juden wirklich auch eine qualitative suggeriert, ist eine Frage, die auf alle Fälle nicht der unbewusst psychologischen Lenkung der Zuschauer überlassen bleiben sollte.

Die Römer haben (historisch wie im Film) eine andere politische und juristische (exekutive) Position, das erschwert einen fairen Vergleich. Mir scheint, dass sie insgesamt nicht besser wegkommen. Während viele der Soldaten vielleicht "nur" ihrer grausamen Pflicht nachkommen, erfüllen die Folterknechte sie nicht nur, sondern tun dies mit sadistischer Häme; sie übertreiben mit ihrer Brutalität, so dass sie von ihrem Hauptmann gerügt werden. Bei Pilatus ist eine ambivalente Darstellung zu beobachten: zunächst sucht er einen fairen Prozess, initiiert das Gespräch mit Jesus, und findet ausdrücklich keine Schuld an ihm; dann knickt er aber doch um und entscheidet gegen sein juristisches Wissen und Gewissen und für seine politische Stance. Einzig Pilatus' Frau ist eine eindeutig positiv dargestellte Figur unter den Römern.
 

IV. Darstellung der Juden und Römer im Vergleich zu den biblischen Passionsberichten

Dieser Abschnitt sollte im Rahmen eines Aufsatzes über die "Biblizität" des Filmes an anderer Stelle ausführlicher diskutiert werden. Meines Erachtens hält sich der Film im Wesentlichen an die Charakterisierungen des Neuen Testaments (unbeschadet der unterschiedlichen Charakterisierungen der Figuren in den vier Evangelien).

Vier hier relevante Abweichungen zur Bibel seien genannt, eine zu Gunsten der Juden, eine zu Ungunsten der Römer, zwei zu Gunsten der Römer:

1) Die im Hinblick auf die Darstellung der Juden wohl prekärste Aussage innerhalb der biblischen Passionserzählungen, nämlich die so genannte "Selbstverfluchung" der jüdischen Volksmasse, fehlt offenbar nicht im aramäischen Text des Filmes, jedoch erscheint dieser Satz nicht in den deutschen Untertiteln (Mt 27,25: "Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder."). Hiermit ist dem Film ein potentiell antisemitischer Zahn gezogen.
2) Es fehlt das Glaubensbekenntnis des römischen Hauptmanns am Kreuz unmittelbar nach Jesu Tod (Mk 15,39: "Wahrlich, dieser war Gottes Sohn!" par. Mt). Auch dadurch wird das Verhältnis der Darstellung von Römern und Juden zu Gunsten der Juden verschoben.
3) Pilatus bietet Jesus einen Erfrischungstrank an.
4) Die positiv dargestellte römische Figur, die Frau des Pilatus, hat an Bedeutung gewonnen. Sie hat einen Namen erhalten (Claudia), reicht der trauernden Maria Trosttücher und beobachtet die Geißelung mit offensichtlicher Bestürzung.
 

V. Antisemitismus in den Evangelien?

Die Darstellung "der Juden" in den Evangelien ist vielfältig und muss für jeden Evangelisten einzeln und detailliert untersucht werden. Das spannungsreiche Verhältnis, in dem die zum Glauben an Jesus als den Christus gekommenen Juden zu ihren Mitjuden und besonders auch den jüdischen und römischen (!) Obrigkeiten standen, haben in den Evangelien klare Spuren hinterlassen. Ebenso deutlich ist, dass die Abspaltung der christlichen Gemeinde von den Juden zum Teil auf beiden Seiten polemisch verfolgt wurde.

Am deutlichsten wird dies im Johannesevangelium: Jesus wird vorgeworfen, er sei ein Sünder (9,24), ein Gotteslästerer (10,33) und besitze einen bösen Geist (7,20; 8,48.52; 10,20); seine Anhänger gelten als Ignoranten und Verfluchte (7,49). Auf der anderen Seite wird Juden vorgehalten, sie verschlössen sich dem Wort Gottes, widerstünden der Liebe Gottes und seien ehrsüchtig (5,38.42.44). Die härteste Aussage gegen Juden wird Jesus in den Mund gelegt: "Ihr habt den Teufel zum Vater." (8,44). Doch nennt Johannes auch die denkbar judenfreundlichste Aussage: "Das Heil kommt von den Juden." (4,22). Deutlich polemisiert er nicht gegen "die" Juden insgesamt, sondern betont die Spaltung, die Jesus unter ihnen verursacht (7,43).

Rechtfertigt der Gesamtbefund den Vorwurf des Antisemitismus?
Im Jahr 2001 hat sich die Päpstliche Bibelkommission hierzu in der Schrift "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel" ausführlich geäußert. In dieser Schrift gibt man sich insgesamt versöhnlich, stellt sich aber auch umstrittenen Passagen. Besonders bemerkenswert ist der Vergleich der Darstellung des jüdischen Volkes im Neuen Testament im Vergleich zu der im Alten Testament. Hier kommt man zum Ergebnis, dass etwa alttestamentliche Propheten oft härter mit ihrem Volk ins Gericht gehen als neutestamentliche Autoren.

Schließen wir mit den Schlusssätzen aus jener Schrift: "[E]ine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk ... ist die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation, die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist. Der Dialog bleibt möglich, da Juden und Christen ein reiches gemeinsames Erbe besitzen, das sie verbindet. Er ist auch in höchstem Maße wünschenswert, damit es gelingt, fortschreitend auf beiden Seiten Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden zugunsten einer besseren Kenntnis des gemeinsamen Erbes und zur Stärkung der wechselseitigen Bande."